»LIMONOW«


von
Emmanuel Carrère



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Bourgeoiser Polit-Pop

Peter V. Brinkemper

Wie wohlsituierte Schelme sich einen verelendeten Narren halten. Emmanuel Carrères Romanbiografie über das «Scheißleben» des Eduard Limonow.

Emmanuel Carrères «Limonow» ist die post-kommunistische Exploitation-Biographie, ein erzählerisches Schelmenstück, über einen der umtriebigsten Querulanten und radikal opportunistischen Provokateure in der ehemaligen UdSSR und an Brennpunkten in aller Welt: Eduard Limonow, alias Sawenko — Dissident, Strolch oder militanter Global-Narr? Es geht um das «Oder», das Verrutschen der altvertrauten Rollen, um die sich die gewöhnlichen, seriösen Biographien von russischen und anderen Autoren, Exilanten und Migranten aus dem ehemaligen Ostblock, zwischen Konformität und Dissidenz, ranken. Carrère setzt in seinem «romanhaften» Buch genüsslich eine Werte-Erosion in Bewegung, individuell und kollektiv.

Im Kampf mit dem müde gewordenen sowjetischen Überwachungsstaat sieht der jüngere Limonow (1943 geboren als Sohn eines staatlichen Sicherheitsbeamten in der Provinzstadt Dserschinsk, benannt nach dem Tscheka-Chef Dserschinski, in der Oblast Nischni Nowgorod) die Chance, aus dem Schauplatz seiner verwahrlosten Jugend, dem ukrainischen Charkow, nach Moskau zu flüchten und sich dort als Schneider und eigensinniger Poet im behäbigen literarischen Umfeld einen Namen zu machen. Nach der (in ihren Umständen nicht ganz geklärten) Ausreise des Unberechenbaren 1974 bilden das New York der 1970er Jahre und das Paris der 80er die passenden Kulissen für Limonows Existenz als Prolet-Kult-Dandy. Als abgehärteter, auf sich selbst fixierter Exot genießt er seinen wachsenden literarischen und existenziellen Ruhm, das Flair des poète maudit, er ist ein gerngesehener Partygast, lebt jedoch weitgehend in ärmlichen, bestenfalls bescheidenen Verhältnissen. Mit seinem erst 1979 in Paris erschienen autobiographischen und systemkritischen Roman aus der Zeit in den USA «It’s me, Eddie» (Titel der deutschen Ausgabe: «Fuck Off, Amerika») wird Limonow zur exzentrischen Stimme von Verweigerung und Verachtung ausgerechnet im goldenen Westen, wodurch er Aufmerksamkeit in der neoliberalen Epoche erregt.

Limonow ist eine breite Projektionsfläche, Idol und Antitypus der internationalen Gesellschaft. Er liefert überall die unterhaltsame Kontrastfigur, zum Beispiel zu den Königen der Mode- und Werbewelt New Yorks, darunter Emigranten vom Format eines Alexander Libermans (Verlagsleiter bei Condé Nast). Widerstand wird zum exportierbaren Schaugeschäft. Und in diesem nihilistischen Moment liegt auch der Kern seines unbelehrbaren Faschotainments. Er eignet sich die Rhetorik des scham-und-gewissenlosen Gewissens an, er spielt den Schatten angepasster sowjetischer Partei-Schriftsteller und braver Musiker auf Konzertreisen, er erzeugt das lustvolle Störgeräusch in der makellosen Aura der Dissidenten und gefeierten Exilanten, so gegen Joseph Brodsky oder den nationalpatriotischen heiligen Alexander Solschenizyn, dessen zeitgleiches, völlig unfreiwilliges Exil 1974-1994 und die politisch wirksam inszenierte Rehabilitierung und Rückkehr des «Gulag»-Autors nach Russland heftig kontrapunktiert werden.

Querschläger und Klabautermann

Carrères Buch ist angesiedelt zwischen kolportierter Trash-Biographie und Verfalls-Chronik der früheren Großmacht auf der irrewerdenden Suche nach einer neuen Identität, vielleicht jenseits von neureicher Oligarchie und plattem Nationalismus, oder genau eben da mitten hinein. P(r)unksüchtig und sensationslüstern huldigt Carrère Limonow als einem selten wahrhaftigen Zeugen und Zeitgenossen, gerade weil er ein zukunfts- und chancenloser Außenseiter am Rand aller Systeme alter und neuer Bereicherung und Machtballung — zwischen östlicher Tragödie und westlicher Farce ist. Der zwielichtige Underdog und kontroverse Borderliner profiliert sich als politisch anarchistisch-faschistoider Querschläger und Stehaufmännchen von erstaunlicher Lebenskraft und Resistenz. Ein wahrer Klabautermann, der den großen Blöcken von Ost und West und ihren internationalen Joint Ventures, wo immer er kann, den Narrenspiegel vorhält und der mitten im Untergang der UdSSR und in der Neokapitalisierung Russlands die sauberen Einteilungen unterläuft: zwischen Totalitarismus und Liberalität, Verelendung und Schatzsuche, Dogmatik und Entertainment, Geheimdienst-Schnüffelei und existentialistischer Anarchie, Mimikry und Widerstand, Paranoia und Lebenslust. Vor der oft panischen Fahndung nach ihm und seinen jeweiligen Gesinnungsgenossen entwischt er in dunkle Lücken und schwarze Fugen, um in reaktionär-surrealen Zwischenräumen und Daseinszuständen zu hausen: in echten oder eingebildeten Abenteuern zwischen souveräner Rebellion und hündischer Erniedrigung, rauschhafter Desorientierung, tiefster politischer Verwirrung und trivial ernüchternder Isolation und Klarheit über den absurden Lauf der Zeiten. Er paktiert mit allen möglichen geistigen und politischen Reaktionären seiner Epoche, schließlich wird er zum nationalbolschewistischen Sprachrohr der kleinen Leute, alten Kameraden und jungen Skinheads inmitten des ganz normalen Wahnsinns der sich vollendenden Globalisierung in dem von Großkonzernen beherrschten, autoritär-demokratischen Russland Putins, auf dem Wege der noch keineswegs sichergestellten menschen- und bürgerrechtlichen Besserung.

Limonow ist böses Echo oder zitronengelbe Handgranate (siehe das von ihm herausgegebenes Nazbol-Parteimagazin «Limonka»), die personifizierte Bedrohung aller nur erdenklichen zivilen Mainstream-Systeme, er wird als konsequenter Opponent, Hasardeur und Unglücksritter dargestellt, im Sog des sozialen und politischen Abstiegs, als Stuntman der Haltlosigkeit der Verhältnisse, als bedenkenloser Steigbügelhalter der Moskauer Putschisten gegen Jelzin oder als peinlich-krimineller Krisentourist und Statist im serbisch-bosnischen Bürgerkrieg, in dem er nicht davor zurückscheut, sich medienwirksam als anti-muslimischer Schergen-Clown am Maschinengewehr auf der Seite des größenwahnsinnigen Psychiater-Poeten Radovan Karadžić auf den Erhebungen um Sarajewo zu präsentieren. Limonow gründet die Nationalbolschewistische Partei Russlands im Jelzinschen Moskau 1994, die wegen Verdacht auf gewaltsamen Umsturz 2005 verboten wird. Im fernen Altai wird er 2001 aufgrund vorgeblich terroristischer Umtriebe vom Inlandsgemeindienst der Russischen Föderation verhaftet und im Moskauer Lefortowo-Gefängnis interniert (das der «Weltfriedensflieger» Mathias Rust schon 1987/88 kennen lernte), 2003 zelebriert er vor der TV-Kamera seine Entlassung. In seiner neuen Rolle als Bürgerrechtler gründet er 2009 Strategie 31, die Bürgerbewegung mit den regelmäßigen Demonstrationszügen zur Wahrung des verbrieften Rechts auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit in Moskau und anderen Städten. Er kandidiert für Schattenkabinette und als Präsidentschaftsbewerber auf dem rechtsradikalen Spektrum.

Voyeurismus und Puppenspiel

Carrère setzt Limonows zerrissenes Leben, seine ständigen Rollenwechsel zwischen Opportunismus und Verweigerung und sein merkwürdig selbstzentriertes Nirgendwo mal kumpelhaft und dann wieder distanziert ein, wie ein bourgeoiser Voyeur und Puppenspieler, der nur darauf wartet, bis seine Figur an eine bestimmte Stelle kommt, er beutet ihn, der sich ununterbrochen in alle Richtungen selbst ausbeutete, noch weiter aus, und montiert ihn überall hin, verschweißt ihn mit der universellen Heuchelei und Korruption in Ost und West, der Zerrüttung von Wirtschaft, Politik und Kultur, stilisiert ihn zum pseudoepischen und zynisch-kleinprophetischen Platzhalter, weil er selbst, auf der sicheren Seite des publizistischen Erfolges, die implizierte Kampfansage nicht mit eigener konzeptueller Positionierung unter Beweis stellen muss. Carrère gibt sich als plaudernder Polit-Pop-Erzähler, der dem Leser die Antwort auf die Frage schuldig bleibt, ob Limonow, über bedenkliche Stammtischwahrheiten hinaus, den vertrackten Zeitgeist der Jahrtausendwende begriff oder einfach nur auffällig durch seinen Strudel trieb. Ausgiebig bedient sich Carrère des umfangreichen autobiographisch getönten Werks des unkaputtbaren Limonow. Dort, wo es allzu braun wird, hellt er es journalistisch und biedermoralphilosophisch auf, nicht zuletzt in Habachtstellung vor Bernard-Henri Lévy. Nicht selten greift er in die unterste Schublade und zitiert als Zuckerstück pennälerhaft irrelevante Intimitäten und Abscheulichkeiten, vor deren Veröffentlichung Limonow im exhibitionistischen Medien-Gestus der 1980er Jahre nie zurückschreckte. Der kleine Hund leckt das Blut des Herrchens auf, Lustschreie wechselnder Freundinnen dringen durch dünne Wände. Im Hintergrund lauert als wohlwollende Konkurrentin die Mutter, Hélène Carrère, die mit «L'empire éclaté» (1978), ins Deutsche übersetzt als «Risse im roten Imperium» (1986), den Untergang der Sowjetunion vorhersagte, nicht wegen der Entwicklung zur post-kommunistischen Demokratisierung und Kapitalisierung, sondern vorrangig auf der Basis ethnischer und religiöser, und d.h. auch muslimischer Abspaltungstendenzen einzelner Republiken. Eine Divination, deren Voraussetzungen zu Recht kritisiert wurden. Vor allem der hochgestimmte Tonfall der georgisch-französisch-aristokratisch-diplomatischen Familie Carrère, die weltgewandte und weltgeschichtliche Eingeweihtheit — in Verbindung mit den Kruditäten des Limonowschen Lebens — macht den eigentlichen, mehr als verruchten Reiz des Buches aus, die zweifelhafte Anmaßung und verdeckte nihilistische Koalition und Kumpanei der wohlsituierten Schelme und des verelendeten Narren.


«Glanz&Elend», 21. Januar 2013

Eduard Limonow

Original:

Peter V. Brinkemper

Bourgeoiser Polit-Pop

// «Glanz&Elend» (de),
21.01.2013