»LIMONOW«


von
Emmanuel Carrère



Die unautorisierte Webseite zum Buch.
Von den Machern von Limonow.de

zurück

Limonow. Romanbiografie von Emmanuel Carrère

Jörg Plath

Das wilde Leben einzufangen, ist ein alter Traum der Literatur. Eduard Limonow hat ein wildes Leben geführt und darüber in mehr als 40 Büchern erzählt.

Der Russe kam aus der Gosse und wollte Putins Nachfolger werden. Er landete in Putins Lagern, nachdem er in den USA Kammerdiener eines Milliardärs und in Frankreich Starautor war. Die von ihm geführte Nationalbolschewistische Partei ist rechtsextrem, seine Geliebten waren minderjährig.

Limonow ist inzwischen fast 70 und führte ein Leben voller Extreme. Fasziniert hat der Franzose Emmanuel Carrère versucht, es mit all seinen aberwitzigen Wendungen aufzuschreiben.

Aus der Gosse und zurück

Er war sowjetischer Kleinkrimineller, Samisdat-Lyriker und Dissident, Obdachloser in New York, Kammerdiener eines Milliardärs und französischer Starautor, russischer Putschist, Führer einer neonazistischen Partei und Lagerhäftling. Die Liste ließe sich mühelos verlängern. Immer geht es von der Gosse aus nach ganz oben und wieder zurück. Eduard Limonow, 1943 in der Ukraine als Eduard Sawenko geboren, hat ein Leben geführt, das alle üblichen Kategorien sprengt. Emmanuel Carrère, etablierter französischer, eher linksbürgerlicher Autor, nennt es ein «romanhaftes Leben» und war davon so fasziniert, dass er es in «Limonow» beschreibt.

Auf den ersten Seiten seines Buches verknüpft Carrère Limonows Namen mit dem der 2006 ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja. Denn die Putin-Kritikerin lobte vor Gericht stehende Mitglieder von Limonows rechtsextremer Nationalbolschewistischer Partei als moralische Zukunft Russlands. Carrère zweifelt daraufhin an seinem Urteil über Limonow, diesem «grauenhaften Faschisten an der Spitze einer Miliz von Skinheads». Er trifft den Mann, den er noch aus seiner Pariser Zeit in den 1980er Jahren kennt, zwei Wochen lang in Moskau und schreibt «Limonow», so beteuert er mehrmals, um sich Klarheit zu verschaffen.

Sehnsucht nach dem Bösen

Die Gespräche mit Limonow waren offenbar nicht allzu ergiebig, Carrère kommt auf sie nicht zurück. Weitere Recherchen scheint er nicht unternommen zu haben. Selten werden Einschätzungen anderer zitiert, stets sind es nicht unbekannte Pariser Intellektuelle und Freunde - das Buch ist sehr französisch. Eine einzige Quelle nennt Carrère: die immerhin 40 Bücher Limonows, Romane, Erzählungen, publizistische Artikel und philosophische Versuche. Sie schlachtet der Franzose hemmungslos aus, was er nicht verschweigt, allerdings auch nicht reflektiert. Unklar bleibt so, ob und wie sich seine Darstellung von der Limonows unterscheidet.

Der Klappentext der deutschen Ausgabe spricht von einer Romanbiografie. Das gibt Carrère alle Freiheiten und erlaubt zugleich ein neues Verständnis der Gattung: Eine Romanbiografie, selbst eine, die sich aus der Faszination für ein ungewöhnliches Leben speist, kann auch aus Romanen entstehen.

Emmanel Carrère wird darin keine Verwechslung von Kategorien sehen. Er begreift Limonows Leben ästhetisch, als Roman, und dabei treibt ihn die Sehnsucht nach dem Authentischen ebenso sehr um wie die nach dem Bösen, die in Frankreich zuletzt Jonathan Littell und Laurent Binet mit Romanen über hohe SS-Männer befriedigten. Carrère wird bei Limonow fündig, der an der Seite des «fragwürdigen Karadzić» mit einem Maschinengewehr auf das belagerte Sarajewo schießt, als Putschist gegen Boris Jelzin kämpft, vier Jahre in Putins Lagern verbringt und sich mit 16-jährigen Geliebten vergnügt. Dieser Mann könne, glaubt Carrère, kein Antisemit sein, weil er ein Snob sei. Einen Mord dagegen könne er durchaus begangen haben und zwar im «Feuer seiner guten Tschetnik-Laune» in den jugoslawischen Kriegen. Das klingt recht verzeihlich.

Keine Erklärungen

Carrère, der zuweilen eigene Erinnerungen einstreut, etwa an ein Mittagessen mit dem französischen Kulturattaché in Moskau, beurteilt Limonows Tun durchaus kritisch und scheut dann keine starken Worte. «Ich schäme mich etwas für ihn» schreibt er, und dann: Man muss ihm unbedingt Glauben schenken: Nie würde der Franzose Frauen für ihre Attraktivität Noten geben wie der Russe! Emmanuel Carrère kokettiert auf eine nicht selten widerlich wirkende Weise mit Limonows Sex-und-Crime-Erfahrungen und findet alles ziemlich amüsant. Die Moskauer Stadtpläne, heißt es einmal, seien in sowjetischen Zeiten «aus purer Lust» falsch gewesen. Ja, das waren noch lustvolle Zeiten!

Carrère hält sich an die Chronologie, wechselt manchmal ins Präsens, um die Spannung zu steigern, und weiß jederzeit, was im Kopf seines Helden vor sich geht. Viel scheint es allerdings nicht zu sein. Erklärungen für die erstaunlichen Wendungen dieses Lebens liefert Carrère wenige. Er sieht Limonow als Abenteurer auf der Suche nach immer neuen Herausforderungen. Dabei könnte man ihn auch eine Flipperkugel mit einem gewaltigen, nach Aufmerksamkeit gierenden Ego nennen. Oder einen punkigen Kleinbürger, einen ideologischen Freischärler, eine Mischung aus Charles Bukowski, Louis-Ferdinand Céline, Jean Genet, Ernest Hemingway und Gabriele d'Annunzio. Emmanuel Carrère fällt allerdings nur Alexandre Dumas ein.

Den Vergleich mit dem Autor der «Drei Musketiere» muss Carrère sicher nicht scheuen. Bei ihm sind die Frauen Limonows meist sehr schön, die Schwarzen, mit denen Limonow kurzerhand auf der Straße schläft, sehr muskulös, die Situationen sehr gefährlich und sehr unberechenbar. Carrère bietet literarische Primärreize und bleibt mit dieser Genrekost unrettbar hinter Limonows Maßlosigkeit zurück.


«oe1.ORF», 25. November 2012

Eduard Limonow

Original:

Jörg Plath

Limonow. Romanbiografie von Emmanuel Carrère

// «oe1.ORF» (at),
25.11.2012