Ein Ganove und Guerillero
Emmanuel Carrères hinreißende Romanbiografie über einen irrlichternden Helden unser Gegenwart.
Manchmal nennt er ihn «meinen Helden», dann wieder bezeichnet er ihn als «großartigen Loser», «grauenhaften Faschisten» oder schlicht und einfach als «Drecksack». Das Objekt dieser Studie, man ahnt es, ist komplex. Es geht um Eduard Limonow: Ganove, Guerillero, Schriftsteller. Erst «asoziales antisowjetisches Element aus Überzeugung», wie die Akte der Staatssicherheit vermerkt, später Antikapitalist mit terroristischer Tendenz. Limonow, eigentlich Eduard Weniaminowitsch Sawenko, geboren 1943 in Dscherschinsk, ist Autor zahlreicher Bücher, die sich alle um ein einziges Thema drehen — um ihn selbst, den größten, genialsten und verkanntesten Dichter aller Zeiten: Kammerdiener in Manhattan, Dandy in Paris, Soldat in Serbien. Bewundert für seine Bücher, belächelt für seine Politik — nicht unbedingt in Russland, aber überall dort, wo man den Wilden Osten nicht versteht und sich im Gewirr von Interessen und Intrigen, Macht und Mafia schnell verliert. Als Gründer der Nationalbolschewistischen Partei träumte er von einem Großrussischen Reich, einer Allianz aus Braun und Rot.
Limonow ist ein schillernder bad guy, erklärter Gegner des Gutmenschentums und dennoch Dissident, Putin-Gegner, Verfechter der Demokratie. Für seine russischen Landsleute hat er das, was man Aura nennt. Übertragen auf unser kulturelles Koordinatensystem wiederum ist diese Figur angesiedelt irgendwo zwischen Michel Houellebecq, Lou Reed und Daniel Cohn-Bendit. Nun hat ihm der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère ein Buch gewidmet. Es ist keine Biografie im klassischen Sinne, auch kein Roman, eine «Romanbiografie» nennt es der Verlag. Die Amerikaner würden von creative nonfiction sprechen, und das kommt der Sache ziemlich nah: «Limonow» sprengt die Genres. Als das Buch im vergangenen Herbst im französischen Original erschien, rüttelte es den trägen Pariser Literaturbetrieb auf und löste eine neue Realismusdebatte aus. Knapp 300.000-mal hat es sich inzwischen verkauft, diverse Preise gewonnen, aber das Wichtigste ist: Man legt Carrères Buch nach atemloser Lektüre aus der Hand mit dem Gefühl, dass es das eigene Leben verändern könnte.
Eine Romanbiografie also, mit scheinbar leichter Hand geschrieben. Doch führt sie in die Höhen und Abgründe menschlicher Existenz, an die Gründe des Seins, wo es darum geht, sich nicht über andere zu stellen (wie Limonow es tut), noch sich krankhaft unterlegen zu fühlen. «Der Mensch, der sich einem anderen Menschen gegenüber für überlegen, unterlegen oder selbst für gleichwertig hält, begreift die Wirklichkeit nicht», zitiert Carrère eine buddistische Sutra, die das Buch wie ein basso continuo durchzieht. Warum aber ausgerechnet Limonow? Vielleicht, so notiert Carrère gleich zu Beginn, weil er der Einzige ist, der erkennt, dass das aus einer Platte gebürsteten Edelstahls gefertigte Waschbecken im Vorzeigegefängnis von Lefortowo das gleiche ist, das er zuvor in New York gesehen hatte, Ende der achtziger Jahre, als sein Verleger ihn in einem Design-Hotel unterbrachte. Es gibt nicht viele Menschen auf der Welt, die diese Parallele ziehen können und «deren Erfahrung solch unterschiedliche Universen einschließt wie die eines Strafgefangenen in einem Zwangsarbeitslager an der Wolga und die eines angesagten Schriftstellers, der in einem Dekor von Philippe Starck herumspaziert».
Was wie eine hübsche Anekdote wirkt, ist für Carrère der Impuls, das Buch zu schreiben. Limonows Geschichte beginnt ganz unten, in der sowjetischen Provinz. Dies ist eine Gesellschaft, in der es nur zwei Arten von Menschen gibt — «die, die man schlagen darf, und die, die man nicht schlagen darf; und die, die man nicht schlagen darf, sind nicht die Stärkeren oder Geübteren, sondern die, welche bereit sind zu töten. Und der nette kleine Eduard entscheidet sich, ins zweite Lager hinüberzuwechseln.» Limonow weiß, dass er nur seinen «Schwanz und sein Messer» hat, um sich durchzuschlagen. Er wird beide zum Einsatz bringen, damit er später sagen kann: «Ich hatte Glück, dass ich in meinem Leben die vier Erfahrungen machen durfte, die ein Mann machen muss: Gefängnis, viele Frauen, Exil und Krieg.»
Carrère zeichnet die Kindheit in einem kleinen Kaff an der Wolga nach, die Kränkungen, die den Grundstein legen für die Psychopathologie dieses phantastischen Versagers, der sich an seinen Gespenstern ein Leben lang abarbeitet. Es folgen die Jahre als dichtender Dandy in Charkow, der Aufbruch nach Moskau, schließlich die Emigration in die USA, wo Limonow «Fuck off, Amerika» schreibt, ein Buch genährt von großer Wut, hetero- und homosexuellen Bettgeschichten, Besäufnissen, Diebstählen und diversen Dramen. Später wird er in «Die Geschichte eines Dieners» Anekdoten aus seinem Leben als «angeheirateter Butler» erzählen, denn er hat sich, nachdem ihn seine Frau Elena verlassen hat, mit der Tochter eines steinreichen Erben der Upper East Side liiert; am Ende allerdings entpuppt sie sich leider nur als dessen Dienstmädchen.
Limonow findet für sein Buch, das in Amerika niemand haben will, in Frankreich einen Verleger. Es erscheint unter dem Titel «Le Poète russe préfère les grandes nègres»: Der russische Dichter zieht «große Neger» vor. Er geht nach Paris, wo er die Nächte durchfeiert und für die Zeitung «L’Idiot International» schreibt. Auch seine zweite Frau, Alkoholikerin und Nymphomanin, läuft ihm weg. Er zieht in den Krieg, um auf Seiten der Serben zu kämpfen. Als Carrère eine Dokumentation der BBC sieht, in der Limonow mit Radovan Karadzic plaudert und auf das belagerte Sarajewo ballert, unterbricht er die Arbeit an seinem Buch für ein Jahr. Nicht etwa, weil man seinen Helden in dem Film ein Verbrechen begehen sieht, sondern weil der darin plötzlich so lächerlich wirkt: «Ein kleiner Junge, der auf dem Jahrmarkt den starken Kerl markiert.»
Auf den ersten Blick geht es in dieser Lebensgeschichte nur ums Siegen oder Verlieren. Als gäbe es tatsächlich nur zwei Optionen im Leben: als Held daraus hervorzugehen oder als Versager zu enden, als Krieger auf dem Schlachtfeld zu fallen oder an Prostatakrebs einzugehen. Es ist Carrères Blick auf dieses gekränkte Ich zu verdanken, dass die Sache sich dann doch als etwas komplizierter erweist. Er entführt uns in eine Art Spiegelkabinett, in dem er sein eigenes Leben in dem Limonows spiegelt. Während er dessen abenteuerliches Leben nachvollzieht und dessen Psychopathologie zu verstehen versucht, erhält er nämlich tatsächlich Aufschluss über mehr: über das eigene Ich, das bourgeoise Gegenstück zu dem Limonows. Denn Emmanuel und Eduard sind Kinder derselben Generation. Sie haben dieselben Bücher gelesen und dieselben Träume geträumt: Beide haben sich als Dumas’ Musketier D'Artagnan gesehen, der eine an der Wolga, der andere an der Seine.
Der eine, Limonow, wird als Held leben und nie über den Preis klagen, den man dafür bezahlen muss. Der andere zieht sich zurück hinter finanziell gut ausgepolsterten Minderwertigkeitskomplexen, nie reicht es hier zum Selbsthass, höchstens zur Depression. Der eine wird zum frenetischen Weltveränderer mit wechselnden politischen Überzeugungen; der andere ist dazu verdammt, «die Rolle eines Statisten in der Welt einzunehmen». Doch auch, wenn beide schreiben — nur Emmanuel Carrère findet so etwas wie Erleichterung, vielleicht sogar Erlösung darin: als aufmerksamer Protokollant des Lebens der anderen.
«Literaturen», #108, Winter 2012