»LIMONOW«


von
Emmanuel Carrère



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Emmanuel Carrère. Limonow

Patrick Kilian

Der weiße Schutzumschlag kündigt es bereits von Weitem an: Dieses Buch ist ein Sprengkörper. «Limonow» ist eine Romanbiographie über den provokanten russischen Intellektuellen Eduard Limonow (geb. 1943). Limonow, der eigentlich mit bürgerlichem Namen Eduard Weniaminowitsch Sawenko heißt, hat sich diesen Namen selbst gegeben. Als Blending verbindet er die Begriffe «limon» (Limone) und «limonka» (Handgranate) und verweist damit gleich auf zwei Haupteigenschaften seines selbst gewählten Trägers: seinen bitteren Humor und seinen unbedingten Willen sein eigenes Leben wie einen Roman zu schreiben — und dazu gehört es eben auch seinen Protagonisten selbst zu benennen. Limonow ist in seinem Leben vieles gewesen: Außenseiter, Revolutionär und obsessiver Liebhaber.

Emmanuel Carrère, der sich diesem enfant terrible der internationalen Schriftsteller-Szene nun mit einem aufsehenerregenden Buch gewidmet hat, nimmt gleich in der Einleitung eine Aufzählung der Lebensstationen seines Helden vor: «Limonow dagegen war ein Kleinkrimineller in der Ukraine, ein Idol des sowjetischen Undergrounds, Obdachloser, Kammerdiener eines Milliardärs in Manhattan, Starschriftsteller in Paris, ein Soldat, der sich in den Balkanraum verirrte, und jetzt, in diesem heillosen Chaos des Postkommunismus, ist er der alte, charismatische Chef einer Partei von jugendlichen Desperados.» (S. 26). Diese Liste ist erweiterbar — Limonow hat alles gemacht, ist überall gewesen und hat jeden gekannt, sogar Carrère selbst, der nun zu seinem Biographen wurde, ist ihm kurz begegnet. Sehr tief hat sich diese Begegnung in die Erinnerung Carrères eingebrannt und sich wie eine Infektion ausgebreitet. Nach einer gewissen Inkubationszeit steht als Ergebnis nun dieses Buch, das genau wie sein Protagonist ein intellektuell-ansteckender «Sprengkörper» geworden ist — hier vollzieht Carrère eine huldigende imitatio. Der Roman berichtet jedoch wesentlich mehr als Limonows Leben und wurde zu einer Geschichte über Ost und West, über verschiedene intellektuellen Welten, über die Kriege in den ehemaligen sowjetischen Satelliten, über Russland und auch über Wladimir Putin.

Carrère nähert sich seinem Protagonisten, von dem er sich über das gesamte Buch hinweg nicht entscheiden kann, ob er nun Held oder Anti-Held seiner Geschichte sein solle, durch intensive Recherche. Vier Jahre lang hat er das Leben des Skandalschriftstellers studiert, ihn mehrfach interviewt und vor allem eines: er hat seine Bücher gelesen. Limonow schrieb stets über sich selbst und machte sich zum unangefochtenen Helden seiner Bücher, ob als Verlierer oder Gewinner spielte dabei keine Rolle. Schon sein erster Roman von 1976 «Fuck off, America» folgt dieser Logik, nach der Limonow sein eigenes Leben als Erzählung organisiert. Gewissermaßen als Prototyp für Paul Ricœurs Theorie der «narrativen Identität» ordnet Limonow sein Leben in der Rückschau, um sich selbst in der Gegenwart zu verorten und für die Zukunft auszurichten. Seine Identität wird dabei zur Narration und von ihm einer selbstgeschriebenen Plot-Struktur untergeordnet. Ganz im Sinne Machiavellis wirft sich Limonow stets mit aller virtù (Tugend/Tüchtigkeit) gegen die fortuna (Zufall/Schicksal) der Welt, um deren Geschicke zu seinen Gunsten zu wenden. Nicht zuletzt will er damit die Kontrolle über seine Geschichte behalten und sich als auktorialen Erzähler seiner selbst beweißen.

In einem Akt der Überschreibung verfasst Carrère Limonows Geschichte nun erneut. Er setzt seinen Roman wie ein Palimpsest über dessen Erzählung und reichert sie mit Kommentaren und Bewertungen an. Immer wieder schaltet er sich selbst in die Erzählung ein und versucht sich seinem Helden über die eigene Biographie, oder ihre gemeinsame Begegnung zu nähern. Carrère berichtet von eigenen Erlebnissen, von seinen Anfängen als junger Filmkritiker, wie zum Beispiel einer für ihn wichtigen Begegnung mit Werner Herzog in Cannes (S. 188ff), die scheinbar nichts mit Limonow zu tun haben, für ihn jedoch unweigerlich auf ihn verweisen. In seiner Überschreibung alteriert er dabei zwischen Auslöschung und Mystifizierung, ohne sich jedoch einer Seite hinzugeben. Kult und Ikonoklasmus sind bei Carrère nur millimeterweit von einander entfernt und wechseln von Satz zu Satz. Mit diesem Drahtseiltanz ist es ihm gelungen Limonows Leben, das stets dasjenige eines Grenzgängers gewesen ist, nachzufühlen und erzählerisch greifbar zu machen.

Carrère schreibt aber auch die Geschichte der in sich zusammenbrechenden Sowjetunion, die Limonow als Söldner auf dem Balkan, und als revolutionärer Unruhestifter mit seiner links-/rechtsextremen Nationalbolschewistischen Partei Russlands begleitet hat. Gerade in dem Kapitel in dem Limonows aktives Engagement für Serbien und seine Sympathie für den ungeheuerlichen Radovan Karadžic thematisiert wird, oder Carrère von einer Fernsehdokumentation berichtet, die den Schriftsteller beim Abfeuern einer MG auf die Stadt Sarajewo zeigt, tritt die Biographie zugunsten einer historischen Kontextualisierung zurück. Carrère versucht seinen Helden zu retten, der ihm soviel Schwierigkeiten macht, will erklären und verweigert sich letztlich dennoch jeder Form der Relativierung. An diesem Punkt ließ er die Arbeit an dem Buch für ein ganzes Jahr ruhen. Er gesteht sich seines Helden geschämt zu haben, der wie «ein kleiner Junge» inmitten der ganzen Kriegsverbrecher «den starken Kerl markiert» (S. 271). Aber er macht weiter und erzählt von Limonows politischer Karriere in Russland, dem Ende Boris Jelzins bis zu dem Aufstieg Wladimir Putins, in dem Carrère eine Art Anti-Limonow zu erkennen glaubt.

«Limonow» ist ein großes Buch und vollkommen zu Recht 2011 in Frankreich mit dem «Prix Renaudot» und dem «Prix de la langue française» ausgezeichnet worden. Carrère ist das Portrait eines Mannes gelungen, der von sich selbst gesagt hat, er «gehöre zu den Leuten die nirgendwo verloren sind» (S. 378) — Limonow hat sich überall zu Hause gefühlt und auch fast überall gelebt: Moskau, New York, Paris und immer wieder in der Einöde heruntergekommener Vorstädte. Seine Biographie bildet dabei ein Netz, das die Geschichte des 20. Jahrhunderts in besonderer Weise verknüpft und Krieg, Literatur, Kommunismus, Kapitalismus, Untergrund und sogar Punk in gemeinsamen Knotenpunkten verbindet. Carrère hat diese Geschichte, die Limonow aus seinem Leben geformt hat, neu erzählt und mit seiner eigenen Biographie überschrieben. Angesteckt von seinem Protagonisten beginnt sich nun auch Carrères Leben in eine Narration zu verwandeln, in der er sich seiner Identität in Relation zu Limonow versichert. Indem sich Carrère mit seinem Roman selbst in Limonows Erzählung einschreibt, wechselt er von der Beobachter- zur Teilnehmerperspektive, in einer Geschichte, in der Fiktion und Realität schon lange die Plätze getauscht, und sich in ihr gegenseitiges Double verwandelt haben. Nachdem «Limonow» — die zitronensaure Granate — letztes Jahr in Frankreich explodiert ist, liegt das Buch nun bei Matthes & Seitz vor, um auch hier einzuschlagen. Ein großartiges Buch, das nicht nur eine Biographie, sondern auch zu seiner eigenen Reflexion geworden ist.


«Ikonenmagazin.de», September 2012

Eduard Limonow

Original:

Patrick Kilian

Emmanuel Carrère. Limonow

// «Ikonenmagazin» (de),
09.2012