Modern art und ihre Bewohner
Eduard Limonov
Das war ein bemerkenswertes Objekt: ein Meisterwerk der Buchdruckerkunst mit Hochglanzumschlag — vorn Reproduktionen von Miro, Arp und Kandinskij, hinten Cezanne, Claude Monet und van Ghogh. Zusammengestellt um 1966 in der Tschechoslowakei, nannte es sich »Lexikon der Gegenwartskunst« und enthielt 700 gewichtige Seiten. Diese Seiten rochen noch nach Benzin und Druckerschwärze, also nach der industriellen Macht der Tschechoslowakei (des der Sowjetunion nächsten westlichen Landes), als es in meine Hände fiel. Es hatte die Explosivkraft einiger Atombomben vom Hiroshima-Typ und war in die Sowjetunion gesandt worden, um die sowjetische Jugend zu verführen bzw. vom rechten Weg abzubringen, sie von innen her zu zersetzen. Und ich war einer der Verführten.
Meiner damaligen Freundin Anna Rubinstein geriet dieses Juwel infolge schicksalhafter Privilegien in die Hände. Sie arbeitet nämlich als Verkäuferin in der Buchhandlung »Poesie«. Nicht viele Lexika fanden ihren Weg in die Charkower Buchhandlung. Ich usurpierte das in Familienbesitz geratene Objekt und schrieb mit roter Tinte die folgenden naiv-provinziellen Zeilen auf die letzte weiße Seite
»Hiermit beeidet Eduard Limonov, ebenso berühmt zu werden wie die im Lexikon genannten Personen«.
Im Lexikon aber lebten wie in einem internationalen Luxushotel eine riesige Anzahl höchst bizarrer Personen. Von den Stockwerken A, B, C… bis hinauf zum Z. Das waren Typen! Die Mehrzahl von ihnen waren weiß der Teufel wo auf die Welt gekommen — in polnischen, ukrainischen oder rumänischen Ortschaften, die nicht einmal auf Karten großen Maßstabs zu finden sind, zum Sterben aber hatten sie sich Paris oder New York ausgesucht. Paris hat sie besonders angezogen. Im Fall Andre Bretons (er wurde wegen seiner Verdienste um die surrealistische Malerei ins Lexikon aufgenommen), der in Tinchebray geboren wurde und in Paris starb, ist es nicht verwunderlich, immerhin liegen beide Orte in Frankreich, aber Tristan Tzara wurde in Moinesti, Rumänien geboren und starb in Paris, oder Larionov, geboren in Tiraspol — »starb in Paris« — das beflügelte meine Phantasie. »Mort à Paris« — das klang wie die höchste Ehre, zuerkannt den Würdigsten für ihre Verdienste um die Kunst.
Die Tschechen, objektiv und lakonisch wie die Deutschen, präparierten den Künstler in kurzen, mit farbigen und schwarz-weißen Abbildungen versehenen Artikeln, wie ein Insekt, genau und präzise. Zwei Ausgangspunkte — Geburt und Tod. Die wichtigsten Wohnorte. Teilnahme an »Ismen«. Kunstrichtungen und populäre Bewohner des Hotels wie Claude Monet, Cezanne oder Picasso bekamen 2–3 Seiten, Gauguin, Braque oder Picabia eine Seite, bis hin zu ganz kleinen Kunstinsekten, die zu viert auf einer Seite wohnten. Aber auch kaum bekannte Talente waren vertreten und sogar kleine Reproduktionen konnte man gut erkennen und verstehen, wie sie gemacht waren.
Von Zeit zu Zeit tauchten Dechiffrierprobleme auf. Die Hauptmasse der tschechischen Wörter ist gemeinslawisch und war mir verständlich, auch weil ich ukrainisch konnte. Aber manchmal verstiegen sich die Tschechen zu solchen Wendungen, daß ich davorstand wie vor dem Stein von Rosette, in solchen Fällen mußte ich mich an Spezialisten der deutschen Sprache wenden.
Daß ich selbst ein Vertreter einer benachbarten Kunst, der Poesie, war, störte mich nicht. Damals war die Kunst für mich ein riesiges einheitliches kosmologisches System. Wie goldene Nägel strahlten die Sterne der Poeten und die Leuchten der »Künstler« bewegten sich auf Himmelsbahnen, die sich kreuzten, einander anstrahlten und das Licht zurückwarfen. Ich sah nichts Anstößiges daran, daß Dichter und Vaganten wie der Grieche Jean Moréas (eigentlich Papadiamantopoulos), geboren in Athen, Guillaumme Apollinaire, Halb-Pole, Halb-Italiener, der rumänische Jude Tzara (eigentlich Sami Rosenstock) und Andre Breton im selben Hotel der Kunst ihre Zimmer nebeneinander hatten. Jeder von ihnen hat wenigstens eine internationale Kunstrichtung inspiriert, wenigstens einen Ismus. Lange vor der UNO, lange vor den Proletariern aller Länder haben sich Künstler aller Länder und Nationen vereinigt. Der junge Mann, der ich damals war, wußte nicht, ob TÄUBER-ARP, Sophie (1889–1943), geboren in Davos, Studien in München, Hamburg und Zürich, und ihr Nachbar im Lexikon TATLIN, Vladimir Evgrafovitch (1885–1953), geboren in Charkov, miteinander bekannt waren, aber es war unmöglich, die gemeinsamen Tendenzen in ihren Arbeiten zu übersehen. An verschiedenen Enden Europas machten sie in den Zehner und Zwanziger Jahren die moderne Kunst des 20. Jahrhunderts.
Das Lexikon lebte 7 Jahre bei mir in Moskau und reiste mit mir nach Wien, Rom und New York. Am Flughafen in Rom öffnete die Militärpolizei den Koffer, wo das Lexikon in Gesellschaft anderer ausgewählter Bände ruhte, weil er verdächtig schwer war. Ein anonymer Anruf hatte davor gewarnt, daß sich im PANAM-Flug Rom — New York eine Bombe befinde. Als sie den Koffer aufbrachen, beschädigten, ja »zerbrachen« sie mein Lexikon. Am meisten litten die Bewohner des Stockwerks »M« — Magritte und Miro. Jedoch auch in lädiertem Zustand diente mir mein Lexikon weitere 6 Jahrein New York in diversen Emigrantenhotels, wo es die Funktion der Bibel oder der Heiligenleben erfüllte. Das grandiose Rowdytum Duchamps — Rose Sélavy, der die Gioconda mit einem Bärtchen versah, entsprach meiner damaligen Stimmung als Vertretendes sozialen Bodensatzes — ich war Sozialhilfeempfänger in einer fetten reichen Stadt. Ebenso der stolze Nihilismus eines Tristan Tzara.
In New York wollte es das Schicksal, daß ich einigen Bewohnern des Lexikons leibhaftig begegnete. Richtigen Vertretern der Kunstgeschichte. 1975, als ich den Empfangsraum der »OP-Page« im Gebäude der New York Times betrat, entdeckte ich Salvadore Dali in einem tiefen Sessel, Beine gespreizt, auf einen Stock gestützt. Hinter dem Sessel stand ein Zwerg. Eine Woche später, als ich gegen Mitternacht ins Hotel »Winslow« zurückkehrte, wo ich wohnte, stieß ich Ecke 55. Straße auf Dali mit Pelerine, Galja und Chauffeur- Sekretär, die zum Hotel »St. Regis — Sheraton« spazierten. So waren wir Nachbarn! So etwas war nur möglich in der kurzen Zeit der New Yorker Depression von 1974–1977, daß an der 55. Straße, geteilt nur durch die Madison Avenue, das First class Hotel »St. Regis — Sheraton« und das »Winslow«, wo ein winziges Loch mich nur 130 Dollar pro Monat kostete, einander auf Sichtweite gegenüberlagen. In der Folge konnte ich Dali samt Anhang fast jede Nacht ins Hotel St. Regis gehen sehen, wenn mir danach war. Im selben Jahr wurde ich diesem Aristokraten des tschechischen Lexikons (er hatte dort zweieinhalb Seiten zur Verfügung!) offiziell vorgestellt, d.h. ich drückte ihm die Hand und nannte meinen Namen. Das geschah nicht auf der Straße, sondern in einer luxuriösen Wohnung auf der Park Avenue. Das Ehepaar Liberman (er — Herausgeber der Condé Nast Publications, sie — gebürtige Russin, früher Tatjana Yakovleva, Ende der 20iger Jahre in Paris verliebte sich Majakovskij in sie) führten mich und meine damalige Frau Elena »in die Gesellschaft ein«. Als Dali meine Hand drückte, murmelte er einen russischen Kinderreim, den er natürlich von Galja gelernt hatte. Dali interessierte sich für die schöne Elena (für mich, den langhaarigen Jüngling mit Brille, interessierte er sich nicht) und bat um unsere Telefonnummer. Libermans erzählten später, das exotische russische Mädchen habe ihn sehr beschäftigt. Möglicherweise bereitete Dali für Elena die Rolle der Amanda Fear vor? Leider (oder zum Glück) hatte diese Geschichte für Elena keine Folgen, die Umstände waren dagegen. Unsere Familie zerfiel schon im Januar 1976 und in unserer Wohnung in der Lexington Avenue war niemand mehr, der Dalis Anruf hätte beantworten können.
Und Andy Warhol (ein Tscheche — im tschechischen Lexikon war er nur bescheiden vertreten, mit einer halben Seite und einer Campbell Suppe) begegnete ich auf der Straße. Ich spazierte mit einem Freund (er war übrigens Artist), über die Madison Avenue, und Warhol blieb an der Ecke Madison — 63. Straße bei einem Telefon-Automaten stehen und begann, in seinen Taschen zu kramen. Mondfarbene Haare, einen purpurroten Rucksack umgeschnallt, sah er aus wie eine Figur von BD-Tintin. Tintin hatte keinen dime. Mein Freund wechselte Warhol einen »Quarter« — 25 cent. Die großen Menschen des tschechischen Lexikons haben ihre Eigenheiten — Wahrhol wartete geduldig, bis mein Freund zu den 2 dimes einzelne 5 cents aus seinen Taschen zusammenklaubte. Obwohl wir sehr gern mit dem Meister der Pop art ein Gespräch angefangen hätten, gingen wir, nachdem wir ihm die Hand gedrückt hatten — wir genierten uns, wir waren zu unbedeutend. Es stellte sich heraus, daß zwischen dem Teveljev-Platz im provinziellen Charkov, wo ich zum ersten Mal auf einem Fensterbrett im tschechischen Lexikon geblättert hatte, und der Madison Avenue, wo ich mich 10 Jahre später befand und wo die lebenden DALI und WARHOL seelenruhig spazierengingen, eine direkte Verbindung besteht, zwischen der Kunstgeschichte und der Realität, zwischen dem heutigen Tag und dem gestrigen, zwischen entgegengesetzten Orten auf dem Globus.
Das tschechische Lexikon ruht friedlich im Keller eines Hauses auf der New Yorker East Side, von mir zurückgelassen, als ich vor acht Jahren nach Paris übersiedelte, aber die magnetischen Kraftwellen des Lexikons beeinflußten weiterhin die Welt und bringen entfernte Objekte einander nahe. Unter den Namen, die 1987 eine Petition in Sachen Eduard Limonov unterzeichneten, daß dem genannten E. L. die französische Staatsbürgerschaft zuzuerkennen sei, entdeckte ich SOUPAULT, Philippe. Im tschechischen Lexikon, ich erinnere mich genau, stand geschrieben »französischer Dichter, geboren in Chaville. Spielte eine aktive Rolle in der Pariser Periode von Dada, im besonderen bei der Dada-Ausstellung, wo er ein Stück Asphalt ausstellte (die Arbeit hieß «Cité de Retiro»), einen leeren Rahmen («Porträt eines Unbekannten») und einen Spiegel («Porträt eines Schwachsinnigen»)«. Wenn ich mir die Unterschrift Soupaults anschaue (die Initiatoren der Petition — die Zeitschrift »Digraphe« — schenkten mir alle Originalunterschriften, nachdem ich dank Soupault und anderer die französische Staatsbürgerschaft erhalten hatte), denke ich: Was ist »art«? Was ist Leben? Und warum gibt es zwischen dem Leben und der Realität des tschechischen Wörterbuchs so viele Verbindungen?
KESSLER, Jon, geboren in Yonkers, New York, U.S.A., im Jahre 1957 und SWESDOTSCHOTOV, Konstantin, geboren in Moskau, USSR, 1958, werden einmal Nachbarn sein im neuen Lexikon der Modernen Kunst, das man in der Tschechoslowakei vielleicht im Jahre 2036 herausgeben wird. Ebenso wie Christine BADER und Jennifer BOLANDE und René DANIELS und Stanislav DIVIŠ. Und Georg HEROLD und Mike KELLEY und Liz LARNER und Juan MUÑOZ und Włodek PAWLAK und German VINOGRADOV und Heimo ZOBERNIG. Ich jedenfalls wünsche ihnen das.
Übersetzung: Liesl Ujvary