Inoffizielle sowjetische Dichtung
Eine Einführung
Sechs russische Dichter werden hier zum ersten Mal in russischer Sprache gedruckt und in Übersetzungen dem deutschen Publikum vorgestellt. Die Doppelsprachigkeit des Buches weist auf zwei verschiedene Funktionen desselben hin.
Einerseits soll es den deutschen Leser über die poetische Entwicklung informieren, die in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren im russischen Sprachraum stattfand. Ein Vergleich der Ergebnisse dieser Entwicklung mit literarischen Erscheinungen im Westen zeigt erstaunliche Parallelen — auch in Russland wurde in einer Weise mit der Sprache gearbeitet, welche zur Entstehung einer konkreten Poesie führte.
Andererseits soll das Buch den russischen Leser über die poetische Entwicklung informieren, die sich zwar in seinem Lande, doch ausserhalb der festgelegten sprachlichen Gesetze des Landes abspielt. Die in der Sowjetunion wirksame Maschinerie zur Steuerung des Bewusstseins funktioniert gemäss der Erkenntnis Wittgensteins — «Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt». Alle Manipulationen, die darauf abzielen, die traditionell akzeptierten sprachlichen Denkschemata aufzulockern und zu erweitern, werden als «sinnloser unverständlicher Blödsinn» klassifiziert und können deshalb in die veröffentlichte Literatur keinen Eingang finden. Dass es sich dabei um eine sprachlich motivierte Zensur handelt, ergibt sich schon daraus, dass sich aus den meisten dieser Gedichte ein vordergründiger politischer Protest nicht herauslesen lässt. Ein Gedicht von Igor Cholin lautet:
Dröhn Donner
Dröhn
Fliess Regen
Fliess
Neig dich Baum
Neig dich
Spriess Gras
Spriess
All dies für mich
Allgemein akzeptierte Funktionszusammenhänge, hier physikalischer Natur, werden ignoriert, ein neuer — die weitgehende Identität des menschlichen Bewusstseinsraumes mit Elementen der Umgebung — wird angedeutet. «Der Autor leidet an Grössen wahn», würde die sowjetische Kritik zu diesem Gedicht bemerken.
Aber auch ein Gedicht wie dieses von Nekrasov:
was ist das
was ist das
das ist alles
das ist alles
alles und sonst nichts
alles und sonst nichts
und alles ist prima
und alles ist prima
das einige sprachliche Klischees aus dem gebräuchlichen umgangssprachlichen Kontext herauslöst, ihnen durch die Wiederholung eine besondere Signalwirkung verleiht und durch eine bestimmte Reihenfolge die ausweglose Abgeschlossenheit dieser Phrasen aufzeigt, ist häretisch — auch wenn es scheinbar gut ausgeht.
Die offizielle sowjetische Lehrmeinung besagt, dass Sprache ein Kommunikationsmittel darstellt, welches sich gegenüber der übermittelten Information neutral verhält. Dass bestimmte sprachliche Formen und Formeln — wie die Subjekt-Objektrelation oder die oben angeführten Klischees — ein bestimmtes Verhalten des Menschen zu seiner Umwelt implizieren können, ist eine Fragestellung, die nicht gestattet wird. Eine Thematisierung der Sprache darf in der Sowjetliteratur nicht stattfinden — sie könnte ja nebenbei den Wortschwall ganz besonders drückender Art zutage bringen, mit dem der Sowjetbürger tagtäglich überschüttet wird. Ein Beispiel dafür ist Nekrasovs «Gedicht»
Zunahme der
fortgesetzten beschleunigten tatkräftigen inangriffnahme von massnahmen…
Poesie soll poetisch sein. Poesie soll der Entspannung und der Ablenkung dienen oder gewisse, offiziell gewünschte Gefühle wie Freude an der Arbeit oder Heroismus erzeugen. Ein Gedicht wie das genannte ist nicht poetisch, innerhalb der begrenzten sowjetischen Sprachwirklichkeit ist es funktionslos. Diese Wirklichkeit ist in Funktionszusammenhänge physikalischer, technischer, ökonomischer, gesellschaftlicher Natur auf geteilt. Literatur erfüllt einen genau definierten Zweck innerhalb des gesellschaftlichen Funktionszusammenhanges. Während der Stalinzeit war der direkte Druck, dem der Einzelne ständig ausgesetzt war, offenbar zu gross, um eine Haltung entstehen zu lassen, die eine Auseinandersetzung mit der sprachlichen Wirklichkeit ermöglicht hätte — nur das Leiden unter dieser Wirklichkeit konnte sich manifestieren. Gedichte von Mandelstam, Achmatova oder Pasternak halten sich innerhalb der von traditionellen Denk- und Sprachmustern abgesteckten poetischen Gefilde auf, nur bringen sie nicht «Freude am Aufbau des Sozialismus» zum Ausdruck, sondern Leid. Die negative emotionelle Färbung dieser Lyrik ist der Grund, warum diese Dichter gar nicht oder nur spärlich gedruckt werden. Eine direkte Bedrohung des sowjetischen Systems stellen sie nicht dar. Diese könnte viel eher von einem anderen, auch schwer zugänglichen Dichter ausgehen, von Velemir Chlebnikov. Chlebnikov erzeugte durch komplexe ineinander verzahnte Manipulationen phonetischer und semantischer Natur eine «metarationale Sprache» (zaumnyj jazyk), die tatsächlich eine «Wirklichkeit ohne Ränder» zu öffnen scheint.
Chlebnikovs aufmerksamster Schüler in der Sowjetliteratur war Majakovskij. Doch ordnete Majakovskij seine an Chlebnikov geschulten sprachlichen Innovationen häufig Denkzusammenhängen unter, die in der traditionellen Sprach Wirklichkeit beheimatet waren und einen prosowjetischen Kontext hatten. So konnte Majakovskij zu einem offiziellen Dichter stilisiert werden, während seine sprachlichen Experimente aus dem Bewusstsein abgedrängt wurden.
Für die Dichter, die nach Stalins Tod, also etwa um die Mitte der fünfziger Jahre, zu schreiben begannen, war ein Fortsetzen Chlebnikov’scher Methoden offenbar unmöglich. Unter dem jahrzehntelangen Druck der Stalinzeit hatte sich die Sprachwirklichkeit so verhärtet und verengt, dass neue Wege gefunden werden mussten, die ein freieres Begehen und Übertreten dieser Wirklichkeit erlaubten.
Die in diesem Buch vorliegenden Ergebnisse dieses Suchens ergeben allerdings bei weitem kein repräsentatives Bild der heutigen Situation in Russland. Erstens ist die Verbreitung von Samisdat auf enge Kreise der Intelligenz beschränkt, die sich manchmal kaum überschneiden; Dichter, die in derselben Richtung arbeiten, können jahrelang nebeneinander leben, ohne jemals auch nur voneinander zu hören. Zweitens gelangt nur ein Bruchteil der Arbeiten in den Westen. Drittens ist ein beträchtlicher Teil der Texte kaum zu übersetzen. Viertens fehlt dem deutschen Leser der Kontext des russischen Lebens, die Realien politischer, soziologischer, sprachlicher, geographischer, klimatischer usw. Natur, ohne deren Kenntnis viele Texte nicht dechiffrierbar sind.
Einige der Mittel und Vorgangsweisen, mit denen sich die hier gedruckten Autoren der normierten Sprache erwehren und in von ihr unberührte Bereiche Vordringen, lassen sich trotz allem erkennen. Cholin und Nekrasov etwa stellen Methode und Vokabular dieser Sprache manchmal einfach zur Schau — wie Nekrasov in dem Gedicht «Macht, Verstand, Ehre, Gewissen». Cholin reproduziert die verkürzte harte Logik, welche weite Bereiche des sowjetischen Alltags formt, und füllt sie mit einer unerlaubten Semantik auf («Klavier zu verkaufen», «Bekanntschaft», «Da hat ein Automat»). In anderen Gedichten wie in «Meine Erde» oder «Ihr kennt ihn nicht den Cholin» durchbricht er festgefügte hierarchische Zusammenhänge und stellt neue Ordnungen her. Das freie Manipulieren mit Funktionskomplexen verschiedenster Art und dem semantischen Material, aus welchem sie aufgebaut sind, ist kennzeichnend für Cholins Lyrik.
Für Nekrasov sind alle sprachlichen Elemente, auch topographische Bezeichnungen, Eigennamen, Fremdwörter, Ausrufe, die unzähligen sowjetischen Abkürzungen, gleichwertig und poetischer Verwendung zugänglich. Er kombiniert diese Elemente in einer Weise, welche die genormte Bedeutung der Wörter verwischt und ein bestimmtes semantisches Klima entstehen lässt, das, ähnlich der Klangfarbenmusik, verschieden gefärbte emotionelle Zustände zum Ausdruck bringt. Besonders typisch tritt diese Methode in den «Frühlingsgedichten» (— es wird irgendwie besser) und in den «Herbstgedichten» (— es wird irgendwie schlechter) zutage. Manchmal zieht er mit einer sowjetischen Phrase einen abrupten Schlussstrich.
Sapgir ist mit seinen «Liegedichten» («ljustichi») als Verfasser einer sparsam und prägnant formulierten konkreten Poesie in der Art der Konstellationen Gomringers hervorgetreten — leider sind diese Gedichte nicht verfügbar. Cholin, Nekrasov und Sapgir nehmen in ihren Arbeiten ziemlich tiefgehende Veränderungen der Sprachnorm vor, um ein freieres und weicheres Erleben der menschlichen Sphäre zu ermöglichen. Andere Dichter, wie Limonov oder Ljon, streben ein ähnliches Ziel an, setzen jedoch ein traditionelleres Instrumentarium ein.
Vladislav Ljon gliedert seine Gedichte in Strophen, verwendet Versmasse und reimt. In den meisten seiner Gedichte wird ein Gedankengang entwickelt oder eine Hypothese aufgestellt — etwa die latente Gefährdung des Dichters in einer starr und eindeutig definierten Umwelt. Diese Aussagen macht Ljon mit Hilfe eines Wortmaterials, das fast ausschliesslich in sprachlichen Randschichten angesiedelt ist — Archaismen, buchsprachliche Ausdrücke, volkssprachliche Wendungen werden durch Reime und durch die im Russischen so wirksamen Assonanzen miteinander verschlungen, wodurch ihr Bedeutungshorizont entsprechend bereichert und erweitert wird. Ljon empfindet aber nicht nur die Sprachwirklichkeit, in der er lebt, als Kerker, auch die spezifische biologische Beschaffenheit des Menschen und seine wissenschaftlichen Konzeptionen, die Erkenntnis zwar ermöglichen, aber zugleich begrenzen, spielen in seiner Lyrik eine grosse Rolle. Um diese, wie es scheint, fast ausweglose Situation aufzulösen, führt Ljon in manchen seiner Gedichte einen, wenn auch sehr abstrakt gefassten Gottesbegriff ein.
Auch Limonov hält sich eher innerhalb der konventionellen Sphäre auf, doch während Ljon sich sowohl in sprachlicher wie auch in erkenntnistheoretischer Beziehung in den Grenzgebieten dieser Sphäre aufhält, zieht Limonov gerade das Spiel mit konventionellen Klischees vor. Diese Klischeevorstellungen findet er als emotionelle Zustände verschiedenster Art — ironische, sentimentale, absurde, «russische», «dichterische» — bereits fertig in der Sprache vor und kombiniert sie in einer Weise, die entweder das Klischee erledigt («Ach mein Heimatland, russische Flur»), oder die durch Aneinanderreihen und Übereinanderlegen der Klischees neue Erlebnismöglichkeiten, emotionelle Zwischenzustände, sichtbar werden lässt. Limonovs Gedichte klingen vertraut und fremdartig zugleich.
Der sechste der hier vorgestellten Autoren, Wagritsch Bachtschanjan, ist kein eigentlicher Lyriker. Er steht in der langen Tradition russischer Nonsensliteratur und des schwarzen Humors, eine Richtung, die nie völlig abriss und in der Zwischenkriegszeit von Autoren wie Jewgenij Schwarz und Daniil Charms fortgeführt wurde. Bachtschanjan bewegt sich frei zwischen den Genres, er schreibt Poeme, Kurzdramen, Prosastücke, Erzählungen. Diese Texte bestehen aus unbearbeiteten, in sich geschlossenen Wirklichkeitsbruchstücken verschiedener Grösse und Beschaffenheit, die anhand irgendeiner logischen Struktur zusammengesetzt werden. Deutlich erkennbar ist dieses Verfahren in der «Biographie» oder im «Tagebuch». Die absichtlich falschen Ordnungen, die Bachtschanjan herstellt, weisen nicht nur darauf hin, dass die allgemein gültige Ordnung genau so bizarr und «falsch» sein kann, sie öffnen auch Durchblicke auf die schreckliche Buntheit einer Welt ohne Schranken.
Liesl Ujvary