Inoffizielle Sowjetische Lyrik
Oberstes Gesetz und Richtschnur der sowjetischen Literatur ist die normierte Sprache. Die sprachliche Norm, genannt »Russische Literatursprache«, ist in Wörterbüchern und Grammatiken fixiert und beschreibt und umschreibt die vom System gewünschte Wirklichkeit genau und präzis. Das sprachliche Inventar dieser offiziellen Wirklichkeit ist ziemlich beschränkt — weite Gebiete der Sprache werden ganz bewußt ausgeschieden.
So werden etwa große Teile des sehr reichen russischen Wortschatzes als veraltet, buchsprachlich, dem Slang, der niederen Umgangssprache oder Dialekten zugehörig deklariert und somit weitgehend aus dem Umlauf gezogen. Auf diese Weise wird eine Vereinfachung und Verdünnung des semantischen Reservoirs herbeigeführt, zugleich das Bewußtwerden und die sprachliche Repräsentation vieler Aspekte des menschlichen Lebens in ihrer besonderen intimen Verflechtung mit der jeweiligen Umgebung entscheidend erschwert. Auch wird dadurch die Kritikfähigkeit der Sprachträger auf einem absichtlich niedrigen Niveau gehalten und umgekehrt ihre Manipulierbarkeit gesteigert. Das gesamte obszöne Vokabular und überhaupt die ganze sexuelle Sphäre unterliegen ebenfalls strengster Tabuisierung. Dieses Gebiet gilt der sowjetischen Ideologie offensichtlich als nicht steuerbar, ist nicht geheuer und wird deshalb offiziell negiert.
Die sprachliche Normierung wirkt sich allerdings nicht nur in einer gezielten Beschränkung des Wortschatzes aus, sie impliziert auch die Einhaltung und ständige Reproduktion der starren hierarchischen Struktur des Systems mit seinen zahllosen bürokratischen Hypostasen. Das Weiterbestehen des Systems ist nur dann gesichert, wenn seine starre Logik auch im sprachlichen Bereich befolgt wird, das heißt, wenn ein bestimmtes semantisches Material jeweils eindeutig und ausschließlich einem oder einigen bestimmten Sachverhalten zugeordnet wird. Jeder Versuch, diese festen Zuordnungsschemata auf die eine oder andere Weise zu durchbrechen und verschiedene freiere und weichere Organisationsformen der Sprache anzudeuten, wird von der allgegenwärtigen Zensur hellhörig sofort als systemstörender Faktor erkannt und als staatsfeindlicher Akt klassifiziert.
In diesem Klima lebt die Sowjetliteratur. Es wäre falsch, eine scharfe Trennung zwischen offizieller und inoffizieller Literatur zu postulieren. Auch die offizielle Literatur enthält Innovationen, nur sind sie gut verpackt, oft bis zur Unkenntlichkeit. Anderseits ist sicherlich ein großer Teil des Schaffens »offizieller« Dichter »inoffiziell«, also nicht publizierbar.
Die Arbeiten der sechs hier vorgestellten Dichter geben einen gewissen, wenn auch durchaus nicht vollständigen Einblick in das bewegte Leben des Moskauer literarischen Untergrunds. Sie lassen erkennen, wie auf das offizielle sprachliche System reagiert wird, welche Auswege gesucht und gefunden werden.
Größte Konsequenz und Vielseitigkeit beweist in dieser Beziehung Igor Cholin, 51-jährig, der Senior unter den heutigen Moskauer Lyrikern. In seinen »Barackengedichten« häuft er primitiv-ordinäres Vokabular der niederen Umgangssprache und verknüpft es lapidar und monoton zu hart determinierten Handlungsabläufen, deren Thematik — Geburt, Liebe, Zusammenleben, Arbeit, Tod — dadurch eine Konnotation erhält, die zur offiziell üblichen scharf kontrastiert. Zugleich geben diese Gedichte präzis die harte logische Struktur des Systems wieder. Im »Cholin-Zyklus« unternimmt er verschiedene Versuche, die sprachlichen Dimensionen des Bewußtseinsraums zu vermehren und auszudehnen. Mit diesen Gedichten entfernt er sich wohl am weitesten von der offiziellen Sprachwirklichkeit, welche die bewegte Vielschichtigkeit des menschlichen Innenraums ängstlich meidet. In den »Kosmischen Gedichten« schließlich erzeugt er oft frappante Mischungen und gelungene Verbindungen aus technischem und science fiction Vokabular, gekoppelt mit Elementen der gleichgeschalteten sowjetischen Realität. Seiner legalen Existenz nach ist Cholin Kinderbuchautor. Er hat noch nie ein »erwachsenes« Gedicht veröffentlicht.
Auf ganz anderen Wegen als Cholin bewegt sich Vsevolod Nekrasov. Sanft und behutsam geht er mit der Sprache um, zerlegt sie in kleinste Bruchteile und baut diese zu eigenartigen, bedeutungsvollen Gebilden zusammen, deren dichte klangliche Verschlungenheit den einzelnen Elementen — durch ständigen eindeutigen Gebrauch stumpf und sinnlos geworden — wieder einen schimmernden Bedeutungsreichtum verleiht. Für Nekrasov sind alle sprachlichen Elemente, auch topographische Bezeichnungen, Eigennamen, Fremdwörter, Ausrufe, die berühmt-berüchtigte Unzahl sowjetischer Abkürzungen gleichwertig und poetischer Verwendung zugänglich. Aus dem offiziellen sowjetischen Stil löst er oft ganze Blöcke heraus und läßt sie in ihrer sinnlosen Gespreiztheit paradieren, oder er nimmt ein bestimmtes, häufig gebrauchtes Formulierungsschema und geht damit so lang zum Brunnen, bis es bricht. Da gerade die sprachlich interessantesten Gedichte von Nekrasov schwer von ihrer russischen Lautgestalt zu lösen sind, ist er hier nicht voll repräsentiert. Nekrasov ist Ende dreißig, hat Mathematik studiert, lebt ohne Stelle und ohne geregelten Verdienst.
In einem eigenartigen, überaus gespannten Verhältnis zur Sprachnorm steht Vladislav Ljon. Ljon führt eine äußerst kunstvolle Sprachakrobatik auf, um der Norm auszuweichen. Sein Vokabular entstammt fast ausschließlich wenig gebräuchlichen sprachlichen Randschichten, die klangliche Verzahnung seiner oft ausgefallenen Sprachfiguren ist sehr weit vorangetrieben. In komplexen Bildern deutet er an, wie durch wissenschaftliche Konzeptionen, Erleben der Natur oder mystische Erkenntnis eine Vereinigung des Menschen mit der Welt angestrebt werden kann. Gleichzeitig wird auch die Gefährdung deutlich gemacht, die ein solches Streben in einer eindeutig und starr formulierten Realität mit sich bringt.
Ljon ist 33 Jahre alt, Naturwissenschaftler und arbeitete bis Juni 1972 als Meeresbiologe in einem Institut der Akademie der Wissenschaften.
Während die drei genannten Autoren in Gebiete weit abseits der konventionellen Sprachwirklichkeit vorgedrungen sind, bewegen sich andere, wie Sapgir und Limonov, näher der sprachlichen Norm.
Genrich Sapgir, Kinderbuchautor wie Cholin, etwa 40 Jahre alt, gestaltet mit gewandten, blitzschnellen Sprachgebärden eine Situation oder ein Ereignis, das oft seine ganze Bedeutung aus der Form bezieht und zugleich in ihr parodistisch aufgelöst wird.
Eduard Limonov zeichnet vor allem Stimmungen, das bewegte Auf und Ab ständig wechselnder psychischer Zustände, gibt ihnen Farbe, Geruch, Geschmack und kleidet sie in konkret gestaltete Umgebungen. Kühne formale Experimente oder semantische Umgestaltungen finden sich bei Limonov auffallend wenig. Auch sein Wortschatz ist überwiegend im allgemein Gebräuchlichen angesiedelt. Aber er ist ein sehr aufmerksamer Beobachter menschlicher Landschaften — nicht nur der eigenen, auch der sozialen und literarischen — und bildet sie in schwungvollen phantasiereichen Gesten nach. Gerade diese aufgelockerte, weiche Form seiner Lyrik läßt auch Limonov weit aus dem konventionellen Rahmen fallen. Gewissermaßen fungiert er als Ausdruck der Volksseele, reflektiert dann aber auch selbstironisch über sein literarisches Schicksal.
Limonov ist 28 Jahre alt, gelernter Schneider, hat keinen festen Wohnsitz und verfügt über keinerlei Einkommen.
Wagritsch Bachtschanjan, armenischer Abstammung, aus Charkov gebürtig wie Limonov, ist Satiriker. Er steht in der langen Tradition russischer Nonsensliteratur und des schwarzen Humors, eine Richtung, die nie völlig abriß und in der Zwischenkriegszeit von Autoren wie Jewgenij Schwarz und Daniil Charms fortgeführt wurde. Dem reichen Fundus des offiziellen Stils entnimmt er alle möglichen feststehenden Formen, zerdehnt oder komprimiert sie und füllt sie gezielt mit einem semantischen Material auf, das gewöhnlich in anderen Zusammenhängen verwendet wird. Durch diese Konfrontationen zieht er vielen Sprachteilen des Systems den Boden unter den Füßen weg und läßt sie in die Grube seines Hohngelächters stürzen. Bachtschanjan, der auch Karikaturen zeichnet, ist Mitarbeiter der Humorseite der »Literaturnaja Gazeta« und kann dort auch publizieren, was nicht allzu scharf gewürzt ist.
Es gibt viele Wege, die von der normierten Sprache weg in die weiten, noch wenig bekannten Räume sprachlichen Denkens führen und ganz andere Existenzmöglichkeiten und Lebensformen sichtbar werden lassen. Die hier ausgewählte russische Untergrundpoesie mag auch für den westlichen Leser interessante Informationen enthalten, von nicht zu überschätzender Bedeutung ist sie für das russische Publikum. Eine russische Ausgabe der Gedichte wäre aus diesem Grund äußerst wünschenswert.